Grobschnitt live
Berlin, Columbiahalle, 19.06.2010


Klein Ernie hat noch ‚nen Koffer in Berlin…

    

„Ich fühl’ mich gut - ich steh’ auf Berlin!“ wäre das ideale Statement für das, was die Hagener Kultband „Grobschnitt“ bei ihrem Gig in der Hauptstadt am 19.06.2010 von der Bühne der Columbiahalle her ausstrahlte. Und dies ist kein Wunder - wer die Geschichte der Gruppe näher kennt, weiß, dass zwischen 1970 und 1989 die Konzerte im „Quartier Latin“ immer etwas ganz besonderes waren. Alljährlich zu Ostern zelebrierten „Grobschnitt“ dort an drei bis vier aufeinander folgenden Abenden ihre einzigartige Show und für viele Fans aus jener Ära waren diese Termine einfach ein Muss. Nun existiert der legendäre kultige Berliner Konzertschuppen schon seit geraumer Zeit nicht mehr und auch „Grobschnitt“ hatten sich ja lange Zeit von der Bildfläche des Rock verabschiedet und somit waren die Berlinkonzerte der Mannen um Willi Wildschwein nur noch Erinnerung.

    

    

Als sich „Grobschnitt“ im Jahre 2007 nun in verändertem Line-up reformierten, erlebten viele Fans dies als die Erfüllung jahrelanger Wunschträume und seit jenen Tagen gab es viele Konzerthighlights - und natürlich wurden auch Stimmen laut, die ihre Hoffnung ausdrückten, die Gruppe möge doch mal wieder in Berlin spielen. Dies erwies sich organisatorisch als nicht gerade einfach, doch ein beherzter Veranstalter hat es nun endlich gewagt und so konnte „Grobschnitt“ nach nunmehr 21 Jahren wieder mal die Hauptstadt rocken. Um es gleich vorweg zu nehmen: es war wirklich ein besonderer Auftritt, spürbar eine Herzensangelegenheit für die Band und für viele Fans und ein würdiger Abschluss der Konzertreihe im Frühling und Frühsommer dieses Jahres.

    

    

Rund 700 Fans feierten die Show, die auch nach so langer Zeit keine Verschleißerscheinungen zeigt, sondern eher eine Frischzellenkur durchlaufen hat. Großen Anteil an der Frische grobschnittiger Livemusik im 21. Jahrhundert haben natürlich die jüngeren Mitglieder der Gruppe. Und genau das hebt „Grobschnitt“ aus der Masse reformierter Oldiebands heraus: hier wird generationenübergreifend gerockt: auf und vor der Bühne! Ebenso wie drei der Musiker gemeinsam mit ihren Söhnen die Show zelebrieren, bringen einige Fans mittlerweile ebenfalls regelmäßig ihren Nachwuchs mit zu den Konzerten. Diese Rechnung geht auf und die Klassiker aus dem Repertoire der Band klingen nicht wie Covers von alt vertrauten, lieb gewonnenen Songs, sondern erweisen sich als Interpretationen auf der Höhe der Zeit.

    

    

Der Erfolg dieser einzigartigen Show, die in der Columbiahalle zu bewundern war, liegt wohl auch daran, dass das Publikum sich als Teil des Ganzen fühlen kann und dort abgeholt wird, wo es sich tagtäglich befindet: wenn zu Anfang der Vorstellung eine düstere Soundcollage eine bedrohliche Umweltszenerie mit donnerndem Helikoptergetöse, Untergangspropheten und Maschinerielärm heraufbeschwört, stellt der Zuschauer mit Beklemmung fest, dass ihm das alles sehr vertraut ist - ebenso wie die spätere Szene, in der ein entnervter Autofahrer inmitten eines augenzwinkernd inszenierten Verkehrschaos auf der Bühne brüllt: „He, mach schneller, Du Ochse!“ - Der Crash folgt auf dem Fuße und Fetzen und Reifen fliegen. Angesichts einer solchen Welt lässt man sich gerne ein auf eine Reise ins Zauberreich von „Rockpommel’s Land“. Die Geschichte des kleinen Ernie hier nochmals zu erzählen, der in einer Wüstenei mit Fast-Food-Oase gegen die Blackshirts antreten muss, um die gefangenen Kinder von „Rockpommel’s Land“ zu befreien, hieße Marabus nach „Severity Town“ tragen. Mit wie viel Spielfreude und scheinbarer Leichtigkeit „Grobschnitt“ dieses Rockmärchen auf die Bühne bringen, ist nur faszinierend. Einige kleine Unregelmäßigkeiten sind wohl der Euphorie geschuldet. Die Arrangements sitzen und die Interpretation atmet die Magie des Moments. Die Kompositionen sind höchst komplex, und dass es zu keiner Zeit so klingt, als werde hier nur etwas reproduziert ist ein großes Verdienst aller Beteiligten Musiker, Showpeople und Techniker. Das Manko vieler progressiver Rockstücke ist ja oft eine gewisse Sterilität - „Rockpommel’s Land“ ist Feeling pur und löst bei den Zuhörern eine tour de force durch die Gefühlswelten aus - kein Wunder also, dass tosender Applaus aufbrandet, als die letzten Töne des Finales erklingen.

    

    

Aber „Grobschnitt“ wären nicht „Grobschnitt“, wenn sie selbst nach solch einer brachialen ersten Konzerthälfte nicht noch eine Schippe drauflegen könnten - zunächst wurde es wieder mal düster: finstere Polizeigestalten führten mit donnernden Schritten eine „Razzia“ zum gleichnamigen Stück durch, an das sich die Frage „Ist das erlaubt? Was ist erlaubt? Wer ist erlaubt?“ logisch und lückenlos anschloss - das Titelstück des „Illegal“-Albums und dann folgte schließlich die Marihuana-Hymne „Mary Green“ zur Eröffnung des zweiten Sets. Das machte eins klar: „Grobschnitt“ nur als schöngeistige Märchenrocker zu sehen, würde das immense Potential dieser Band verkennen. Ob es nun ausufernde Fantasy-Epen sind oder knallharte Politsongs - „Grobschnitt“ treffen nuancenreich immer den jeweils richtigen Ton.

    

    

Zum Abkühlen nach diesem schweißtreibenden Medley erst einmal die zarte Instrumentalballade „Silent Movie“ und das bewegende Öko-Statement „Könige der Welt“ - und dann ist es soweit: „Solar Music“ ist am Start und wie gewohnt ist dieses fast 50minütige Stück das unbestreitbare Highlight des Abends. Dieses Kunstwerk aus Musik, Feuer, Nebel und Licht ist ein Fest für alle Sinne - und ganz nebenbei ist es ein Phänomen in der Welt des Rock: bereits zu den Anfängen der Band in den 70er Jahren gab es dieses Monumentalwerk, aber es veränderte sich stetig, von Auftritt zu Auftritt, von Tour zu Tour und von der Urfassung ist nur noch eine kleine Tonfolge übrig - und die aktuelle Version, die „Grobschnitt“ zum 40jährigen Bandjubiläum gestrickt haben, unterscheidet sich in vielen Teilen schon wieder von der 2008 für die damalige Live-CD eingespielten Variante. Als Reverenz an die frühen Jahre der Gruppe haben die Musiker einige Parts aus sehr frühen Versionen dieses Mammutstücks eingewoben.

    

    

Und obwohl bereits rund zwei Stunden Show vorangegangen waren, gibt die Band hier noch mal richtig Gas und legt eine Power an den Tag, die unvergleichlich ist. Ob nun die Sänger Willi Wildschwein und Toni Moff Mollo alle Inbrunst in ihre Stimmen legen, die Gitarristen Nuki Danielak und Manu Kapolke mit Hingabe ihre Soli zelebrieren, Bassist Milla Kapolke druckvoll und mit viel Gespür für Dynamik und Melodik der Tieftöner solistisch und rhythmisch brilliert, Tastenmann Tatti Tattva elegische Klangteppiche um fetzige Melodieparts webt, um dann wieder mythologisch-sphärisch schwebende Sounds zu kreieren, die Schlagwerker Admiral Top Sahne und Demian Hache Trommeltornados entfachen und das Stück dem furiosen Finale entgegen peitschen - all dies wird mit solch einer außerordentlichen Spielfreude und Bühnenpräsenz zelebriert, dass man nicht umhin kommt, festzustellen: „Solar Music lebt“ - und es möge noch ein langes und lautes Leben haben!

    

    

Als nach fast einer  Stunde dann der letzte Akkord erklingt, ist aber auch noch nicht Schluss, denn als Zugabe werden zwei weitere Teile aus alten Variationen von „Solar Music“ präsentiert: der Brachialrocker „Powerplay“, der schließlich in das elegisch-poetische Finale mündet, das das monumentale Epos von 1974 bis 1978 abschloss. Da fackelt nicht mal der den Fans vertraute Wikinger mehr lange und erweist dem Publikum wieder einmal die Ehre, indem er ein brennendes Kreuz auf die Bühnenbretter niederlegt.

    

    

Dieses Ritual sagt alles: die Show ist aus - doch bei „Grobschnitt heißt das noch lange nicht „…und alle gehen froh nach Haus!“ - nun, „froh“ sind die Anwesenden schon, aber die Band kommt schnell hinter der Bühne hervor, steht für Gespräche, Fotos, Händeschütteln, Signieren noch lange Zeit zur Verfügung - auch diese Nähe zu ihren Fans ist es, was die Gruppe auszeichnet - lediglich etwas ungeduldige Saalordner demonstrieren ihren Willen zum baldigen Feierabend und verscheuchen Fans und Musiker aus der Columbiahalle - nun, nicht jeder kapiert so ein Phänomen wie das, das da an jenem Samstagabend in der Berliner Konzerthalle stattfand. Aber Grobschnittfans wären nicht Grobschnittfans, wenn sie nicht auch trotz widriger Umstände noch lange bis in den Morgen hinein klönen würden und so gab es jede Menge zwar unkoordinierter, aber dennoch feuchtfröhlicher Nachglüh-Events!

    

    

Wieder einmal bleibt am Ende nur eins übrig: Dankbarkeit - und diesmal auch ein wenig Wehmut: die nächsten Konzerttermine werden erst im Herbst stattfinden! Dennoch ist eins gewiss: das Warten lohnt sich - und zum Glück gibt es Tonkonserven, das Internetforum, die Fanpage… und so kann die Community auch bis zum nächsten Gig ihrem Grundsatz treu bleiben: „Kein Tag ohne Grobschnitt“!

    

Text: Günther „Günni“ Klößinger, 21.06.2010, Fotos: Madeline Schwarz

 

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