Live Lübeck 24.04.2010

Ein magischer Auftakt für ein zauberhaftes Konzertjahr
Bericht: Günther "Günni" Klößinger, Fotos: Thomas "Fobo" Borchardt

    

Innerlich wird so mancher Grobschnittfan in diesem Jahr wohl am ersten April begonnen haben, einen Adventskalender Türchen um Türchen zu öffnen, denn die Wartezeit seit dem bis dato letzten Konzert der Band im November 2009 war lang - deutlich zu lange für die meisten. Zudem war das Lübecker Musikereignis auch mehr als nur ein weiterer Auftritt der professionellsten "Hobbyband" Deutschlands: es sollte der Startschuss sein für eine gewaltige Geburtstagsparty: "Grobschnitt" feiern ihr 40jähriges Gruppenjubiläum. Wenn ich mir in Erinnerung rufe, wie euphorisch Fans und Musiker anno ’85 mit der "Jubilee-Tour" das 15jährige Bestehen dieser faszinierenden Kappelle begingen und mit welchen Gefühlen vier Jahre später die Abschiedstournee erlebt wurde, war von vorneherein klar: es würde ein ganz besonderer Abend werden.

    

Allerdings stellte sich zu Recht die Frage: was soll denn da überhaupt noch Außergewöhnliches kommen? Dass "Rockpommel's Land" in voller Länge, redefined and expanded, auf die Bühne kommen würde, war seit den beiden Testgigs des Vorjahres kein Geheimnis mehr und die "Next Party", die von 2007 bis 2009 dauerte, hatte bereits so viele freudige Überraschungen für die Anhänger der Gruppe bereit gehalten, dass eine Steigerung unmöglich erschien.

     

Wenn es aber nun ein Phänomen gibt, das den alten Schlager "Wunder gibt es immer wieder" ständig aufs Neue bestätigt, heißt dieses "Grobschnitt". Und so wagen die acht Musiker und ihre Crew auch zum Auftakt der Konzertreihe im Jubeljahr einmal mehr das Unmögliche:

    

Etwa 700 Zuhörer und -schauer bevölkern die Halle, als kurz vor 20 Uhr das vertraute Vorprogramm vom Band einsetzt - immer wieder ein augenzwinkernder Genuss für Freunde vielschichtiger Musik, Literatur und Lesemappen. "Von wem stammt eigentlich diese ausgeflippte Dudelsack-Reggae-Version von "Wish You Were Here"?" fragt sich bestimmt nicht allein der Rezensent an jenem Abend, doch schließlich kommt das Tonband molto furioso, wie gewohnt mit "Tales From An Austrian Chicken Restaurant" zu einem Ende - und eigentlich müsste in diesem Augenblick die Liveband mit donnernden Riffs und fetzigen Breaks loslegen. Aber halt! Was ist das?

     

Zwei Herren mittleren Alters betreten die Bühne und begrüßen das Publikum. Nicht nur eine sympathische Geste, sondern eine notwendige: denn, was noch kommen sollte, erforderte dringend, dass das Publikum sich seelisch darauf einstellen konnte. Selbst, wenn man mit dem Procedere schon seit dem Hückeswagen-Gig im Vorjahr vertraut war.

    

Gründungsmitglied, Frontmann und Stimm(ungs)bomber Willi Wildschwein stellt zunächst einmal klar, dass man tatsächlich das 40jährige Bestehen der Band feiern könne, da einige Rechenkünstler in Fankreisen dies vorher mathematisch zu widerlegen versucht hatten. Mit seinem ihm eigenen Charme ging der charismatische Sänger auch auf den Auftrittsort ein - die offene Würdigung des eigenen Publikums ist etwas, das diese Band seit eh und je so sympathisch macht - und dann erklärt sein Begleiter, der nicht minder charismatische Bassist und Sänger Milla Kapolke den Ablauf des Abends. Machen wir es hier mal kurz und prosaisch:

    

Teil 1: "Rockpommel's Land" - Pause - Teil 2: Best of "Next Party". Und dann beginnt schließlich jenes magische Konzert, das trotz aller Vertrautheit doch so anders werden sollte als jeder sich hätte träumen lassen.

     

Die neue Komplettfassung von "Rockpommel's Land" ist in den letzten Monaten noch gereift: Dass der Band im Jahre 2009 das Kunststück gelang, einem derart geschlossenen Konzeptwerk noch einige Stücke und Elemente hinzuzufügen, die so klingen, als gehörten sie seit 1977 dazu, ist ein Anzeichen dafür, dass diese Vollblutmusiker ihre Songs nicht nur spielen, sondern leben. Die Ouvertüre mit ihren beklemmenden Alltagssounds aus einer herzlosen und hektischen Welt voller Zynismus und falscher Heilsversprechungen und dem Übergang zu den Klängen einer intakten Natur greift nicht nur den Zeitgeist auf, der das ursprüngliche Opus hervorbrachte, sondern transportiert es direkt ins Hier und Heute - und damit ist klar: diese Show ist keine Retroveranstaltung im eigentlichen Sinne: diese Musik ist zeitlos, spiegelt heutige Probleme und Sehnsüchte ebenso wieder wie bereits vor über 30 Jahren.

    

Das hoch komplexe Stück wird von den Musikern mit großer Dichte vorgetragen: das Zusammenspiel ist in den besten Momenten als traumwandlerisch zu beschreiben. Wie Demian Hache, einer der Youngster in der Combo, die vertrackte Rhythmik dieser Perle des Progrock meistert, nötigt nicht nur Respekt ab, sondern hinterlässt wohl jeden im Publikum voller Bewunderung. Vor allem, da sein Spiel völlig unangestrengt, flüssig und lässig klingt. Auch Nuki Danielak und Manu Kapolke begeben sich mit ihrer Gitarrenarbeit mitten ins Herz dieser Komposition (letzterer auch zeitweise an Keyboard und Spieluhr) und reproduzieren nicht einfach die Melodielinien des Originals sondern aktualisieren sie, wobei sie dem ursprünglichen Charme und augenzwinkernden Witz der Vorlage mehr als nur gerecht werden. Milla Kapolkes Bass und Admiral Möller-Sahnes Rhythmusarbeit ist ebenfalls nicht nur ein Fundament - ihre Interpretation macht die Rhythmusgruppe zu Melodieinstrumenten. Tatti Tattvas Keyboard passt sich perfekt in das Bandgefüge ein und die Liebe zu den Kompositionen seines Vorbilds, des leider viel zu früh verstorbenen Tastenvirtuosen Volker Myst klingt aus jedem Akkord und jeder Melodie. Auch Toni Moff Mollo bedient bei dem ausufernden Rockmärchen nicht allein die Lichtorgel sondern veredelt so manche Gesangspassage mit seinen Harmony Vocals.

    

Zeremonienmeister in diesem Teil der Vorstellung ist aber unbestritten Willi Wildschwein: neben seinem exakten und gefühlvollen Spiel auf der Akustikgitarre prägt seine ausdrucksstarke Stimme das immerhin fast 60minütige Rockmärchen. In den frühen Jahren der Band war er oft ein bluesgetränkter Shouter - hier wird er zum einfühlsamen Märchenerzähler, dessen Artikulation und Modulation jeder Nuance der ausgefeilten Stücke gerecht wird - Wildschweins Sangesgeist - nie war er so wertvoll wie heute! Dieser Gesang erinnert wirklich an guten Wein: mit zunehmendem Alter wird er immer besser!

     

Als nun dieses magische Stück Musikgeschichte in dem bekannten furiosen Finale gipfelt, ist es nicht verwunderlich, dass das Publikum nicht nur aus dem Häuschen, sondern hochgradig gerührt ist. Tosender Applaus, Dankeschön für dieses Geschenk, das die Band sich selbst und den Fans machte - und Pause!

     

Die zweite Hälfte des Abends könnte man unter dem Motto zusammenfassen: "Ekstase tut so gut!" - nach dem hochkonzentrierten, feinsinnigen Rockmärchen der ersten Halbzeit ist erst einmal hemmungsloses Abrocken angesagt - wer angesichts dieser Abgehnummern still stehen kann, tut dies in einem Sarkophag einer Mumien-Ausstellung. Zum Abkühlen nach dem flotten Dreier "Razzia/Illegal/Mary Green" kommt da die zarte Akustik-Instrumentalnummer "Silent Movie" wie gerufen - dann das athmosphärische "Könige der Welt", das in mir wieder einmal den Wunsch weckt, auch Rockmärchen Nummer 2 aus dem Werk von "Grobschnitt" in Gänze zu erleben: "Kinder & Narren". (Zukunftsmusik?). und dann kam der Hammer:

    

"Solar Music" ist schon seit den ganz frühen Tagen der Band stets das Highlight jeder Live-Performance, sowohl musikalisch als auch showtechnisch - aber was die Gruppe für diese Jubiläumsshow auf die Bühne brachte, ist für mich "the best Solar Music ever". und wieder einmal wurden Träume wahr: als relativ "junger" Fan hat so mancher die klassische Variante dieses Stücks nur noch von Platte oder CD gekannt, denn das Meisterstück der Groben veränderte sich im Laufe der Jahre immer wieder, sodass in den 80er Jahren vom ursprünglichen Opus nur noch die berühmte Melodiezeile "Wobbedidada" übrig blieb.

    

Nach der Textzeile "…und halten die Uhr einfach an" der aktuellen "Sonnentanz"-Fassung ertönten nun Glockenklänge, ein Moment der Stille kehrte ein - und dann erklang jener legendäre D-Moll-Akkord im groben Arpeggio, der von Platte seit Jahrzehnten für Gänsehaut sorgt und der für viele Fans der ersten Stunde für Äonen nur noch eine Erinnerung war - es folgte eine kleine Suite aus "Solar Music"-themen aus den Jahren 1970 bis ’78. Waren schon beim Finale von "Rockpommel's Land" viele Augen feucht geworden - hier wurde häufig hemmungslos geschluchzt. Und an dieser Stelle sei dem Rezensenten einmal ein persönliches Wort gegönnt: ich hätte mir nie träumen lassen, diese wunderbaren Klänge jemals Live zu erleben - aber, wie schon gesagt: es gibt Wunder - immer wieder! Und eins davon heißt "Grobschnitt"

     

Schließlich kehrte nach diesem Zeitfenster "Solar Music" wieder zur "Sonnentanz"-Variante zurück und dieses immer aufs Neue mitreißende, fast 50minütige Spektakel aus brillanter Komposition, ausufernden (und diesmal extrem beseelten) Improvisationen, Licht, Feuer, Funkensprühen im realen wie übertragenen Sinne, dem Sonnengott als Gaststar, Livekämpfen mit Laserschwertern beendete diesen wahrhaft zauberhaften Gig. Und selbst im Zugabeteil sattelte die Gruppe noch eins drauf: nach der Bandvorstellung zu Klängen von "Powerplay" brachte das elegische Wikingerfinale (ebenfalls aus der frühen "Solar Music"-Variante) das Konzert zu einem würdigen, erhabenen Abschluss. und wieder legte der behelmte Totenkopftyp sein flammendes Reliquium auf die Bretter, die für "Grobschnitt" die Welt bedeuten - und dies hoffentlich noch sehr lange tun werden.

    

Was bleibt nun zurück von jenem Konzertabend in Lübeck? Das Gefühl, wieder einmal reich beschenkt worden zu sein - und Vorfreude auf die nächsten Konzerte. und die Hoffnung, dass wir Fans solche Events noch sehr, sehr oft und lange Jahre gemeinsam gesund abfeiern können!

                   

Günther Klößinger, 27.04.2010