Innerlich wird so mancher Grobschnittfan in diesem
Jahr wohl am ersten April begonnen haben, einen Adventskalender Türchen
um Türchen zu öffnen, denn die Wartezeit seit dem bis dato letzten
Konzert der Band im November 2009 war lang - deutlich zu lange für die
meisten. Zudem war das Lübecker Musikereignis auch mehr als nur ein
weiterer Auftritt der professionellsten "Hobbyband" Deutschlands: es
sollte der Startschuss sein für eine gewaltige Geburtstagsparty:
"Grobschnitt" feiern ihr 40jähriges Gruppenjubiläum. Wenn ich mir in
Erinnerung rufe, wie euphorisch Fans und Musiker anno ’85 mit der "Jubilee-Tour"
das 15jährige Bestehen dieser faszinierenden Kappelle begingen und mit
welchen Gefühlen vier Jahre später die Abschiedstournee erlebt wurde,
war von vorneherein klar: es würde ein ganz besonderer Abend werden.
Allerdings stellte sich zu Recht die Frage: was soll
denn da überhaupt noch Außergewöhnliches kommen? Dass "Rockpommel's
Land" in voller Länge, redefined and expanded, auf die Bühne kommen
würde, war seit den beiden Testgigs des Vorjahres kein Geheimnis mehr
und die "Next Party", die von 2007 bis 2009 dauerte, hatte bereits so
viele freudige Überraschungen für die Anhänger der Gruppe bereit
gehalten, dass eine Steigerung unmöglich erschien.
Wenn es aber nun ein Phänomen gibt, das den alten
Schlager "Wunder gibt es immer wieder" ständig aufs Neue bestätigt,
heißt dieses "Grobschnitt". Und so wagen die acht Musiker und ihre Crew
auch zum Auftakt der Konzertreihe im Jubeljahr einmal mehr das
Unmögliche:
Etwa 700 Zuhörer und -schauer bevölkern die Halle,
als kurz vor 20 Uhr das vertraute Vorprogramm vom Band einsetzt - immer
wieder ein augenzwinkernder Genuss für Freunde vielschichtiger Musik,
Literatur und Lesemappen. "Von wem stammt eigentlich diese ausgeflippte
Dudelsack-Reggae-Version von "Wish You Were Here"?" fragt sich bestimmt
nicht allein der Rezensent an jenem Abend, doch schließlich kommt das
Tonband molto furioso, wie gewohnt mit "Tales From An Austrian Chicken
Restaurant" zu einem Ende - und eigentlich müsste in diesem Augenblick
die Liveband mit donnernden Riffs und fetzigen Breaks loslegen. Aber
halt! Was ist das?
Zwei Herren mittleren Alters betreten die Bühne und
begrüßen das Publikum. Nicht nur eine sympathische Geste, sondern eine
notwendige: denn, was noch kommen sollte, erforderte dringend, dass das
Publikum sich seelisch darauf einstellen konnte. Selbst, wenn man mit
dem Procedere schon seit dem Hückeswagen-Gig im Vorjahr vertraut war.
Gründungsmitglied, Frontmann und Stimm(ungs)bomber
Willi Wildschwein stellt zunächst einmal klar, dass man tatsächlich das
40jährige Bestehen der Band feiern könne, da einige Rechenkünstler in
Fankreisen dies vorher mathematisch zu widerlegen versucht hatten. Mit
seinem ihm eigenen Charme ging der charismatische Sänger auch auf den
Auftrittsort ein - die offene Würdigung des eigenen Publikums ist etwas,
das diese Band seit eh und je so sympathisch macht - und dann erklärt
sein Begleiter, der nicht minder charismatische Bassist und Sänger Milla
Kapolke den Ablauf des Abends. Machen wir es hier mal kurz und
prosaisch:
Teil 1: "Rockpommel's Land" - Pause - Teil 2: Best of
"Next Party". Und dann beginnt schließlich jenes magische Konzert, das
trotz aller Vertrautheit doch so anders werden sollte als jeder sich
hätte träumen lassen.
Die neue Komplettfassung von "Rockpommel's Land" ist
in den letzten Monaten noch gereift: Dass der Band im Jahre 2009 das
Kunststück gelang, einem derart geschlossenen Konzeptwerk noch einige
Stücke und Elemente hinzuzufügen, die so klingen, als gehörten sie seit
1977 dazu, ist ein Anzeichen dafür, dass diese Vollblutmusiker ihre
Songs nicht nur spielen, sondern leben. Die Ouvertüre mit ihren
beklemmenden Alltagssounds aus einer herzlosen und hektischen Welt
voller Zynismus und falscher Heilsversprechungen und dem Übergang zu den
Klängen einer intakten Natur greift nicht nur den Zeitgeist auf, der das
ursprüngliche Opus hervorbrachte, sondern transportiert es direkt ins
Hier und Heute - und damit ist klar: diese Show ist keine
Retroveranstaltung im eigentlichen Sinne: diese Musik ist zeitlos,
spiegelt heutige Probleme und Sehnsüchte ebenso wieder wie bereits vor
über 30 Jahren.
Das hoch komplexe Stück wird von den Musikern mit
großer Dichte vorgetragen: das Zusammenspiel ist in den besten Momenten
als traumwandlerisch zu beschreiben. Wie Demian Hache, einer der
Youngster in der Combo, die vertrackte Rhythmik dieser Perle des
Progrock meistert, nötigt nicht nur Respekt ab, sondern hinterlässt wohl
jeden im Publikum voller Bewunderung. Vor allem, da sein Spiel völlig
unangestrengt, flüssig und lässig klingt. Auch Nuki Danielak und Manu
Kapolke begeben sich mit ihrer Gitarrenarbeit mitten ins Herz dieser
Komposition (letzterer auch zeitweise an Keyboard und Spieluhr) und
reproduzieren nicht einfach die Melodielinien des Originals sondern
aktualisieren sie, wobei sie dem ursprünglichen Charme und
augenzwinkernden Witz der Vorlage mehr als nur gerecht werden. Milla
Kapolkes Bass und Admiral Möller-Sahnes Rhythmusarbeit ist ebenfalls
nicht nur ein Fundament - ihre Interpretation macht die Rhythmusgruppe
zu Melodieinstrumenten. Tatti Tattvas Keyboard passt sich perfekt in das
Bandgefüge ein und die Liebe zu den Kompositionen seines Vorbilds, des
leider viel zu früh verstorbenen Tastenvirtuosen Volker Myst klingt aus
jedem Akkord und jeder Melodie. Auch Toni Moff Mollo bedient bei dem
ausufernden Rockmärchen nicht allein die Lichtorgel sondern veredelt so
manche Gesangspassage mit seinen Harmony Vocals.
Zeremonienmeister in diesem Teil der Vorstellung ist
aber unbestritten Willi Wildschwein: neben seinem exakten und
gefühlvollen Spiel auf der Akustikgitarre prägt seine ausdrucksstarke
Stimme das immerhin fast 60minütige Rockmärchen. In den frühen Jahren
der Band war er oft ein bluesgetränkter Shouter - hier wird er zum
einfühlsamen Märchenerzähler, dessen Artikulation und Modulation jeder
Nuance der ausgefeilten Stücke gerecht wird - Wildschweins Sangesgeist -
nie war er so wertvoll wie heute! Dieser Gesang erinnert wirklich an
guten Wein: mit zunehmendem Alter wird er immer besser!
Als nun dieses magische Stück Musikgeschichte in dem
bekannten furiosen Finale gipfelt, ist es nicht verwunderlich, dass das
Publikum nicht nur aus dem Häuschen, sondern hochgradig gerührt ist.
Tosender Applaus, Dankeschön für dieses Geschenk, das die Band sich
selbst und den Fans machte - und Pause!
Die zweite Hälfte des Abends könnte man unter dem
Motto zusammenfassen: "Ekstase tut so gut!" - nach dem
hochkonzentrierten, feinsinnigen Rockmärchen der ersten Halbzeit ist
erst einmal hemmungsloses Abrocken angesagt - wer angesichts dieser
Abgehnummern still stehen kann, tut dies in einem Sarkophag einer
Mumien-Ausstellung. Zum Abkühlen nach dem flotten Dreier
"Razzia/Illegal/Mary Green" kommt da die zarte
Akustik-Instrumentalnummer "Silent Movie" wie gerufen - dann das
athmosphärische "Könige der Welt", das in mir wieder einmal den Wunsch
weckt, auch Rockmärchen Nummer 2 aus dem Werk von "Grobschnitt" in Gänze
zu erleben: "Kinder & Narren". (Zukunftsmusik?). und dann kam der
Hammer:
"Solar Music" ist schon seit den ganz frühen Tagen
der Band stets das Highlight jeder Live-Performance, sowohl musikalisch
als auch showtechnisch - aber was die Gruppe für diese Jubiläumsshow auf
die Bühne brachte, ist für mich "the best Solar Music ever". und wieder
einmal wurden Träume wahr: als relativ "junger" Fan hat so mancher die
klassische Variante dieses Stücks nur noch von Platte oder CD gekannt,
denn das Meisterstück der Groben veränderte sich im Laufe der Jahre
immer wieder, sodass in den 80er Jahren vom ursprünglichen Opus nur noch
die berühmte Melodiezeile "Wobbedidada" übrig blieb.
Nach der Textzeile "…und halten die Uhr einfach an"
der aktuellen "Sonnentanz"-Fassung ertönten nun Glockenklänge, ein
Moment der Stille kehrte ein - und dann erklang jener legendäre
D-Moll-Akkord im groben Arpeggio, der von Platte seit Jahrzehnten für
Gänsehaut sorgt und der für viele Fans der ersten Stunde für Äonen nur
noch eine Erinnerung war - es folgte eine kleine Suite aus "Solar
Music"-themen aus den Jahren 1970 bis ’78. Waren schon beim Finale von "Rockpommel's
Land" viele Augen feucht geworden - hier wurde häufig hemmungslos
geschluchzt. Und an dieser Stelle sei dem Rezensenten einmal ein
persönliches Wort gegönnt: ich hätte mir nie träumen lassen, diese
wunderbaren Klänge jemals Live zu erleben - aber, wie schon gesagt: es
gibt Wunder - immer wieder! Und eins davon heißt "Grobschnitt"
Schließlich kehrte nach diesem Zeitfenster "Solar
Music" wieder zur "Sonnentanz"-Variante zurück und dieses immer aufs
Neue mitreißende, fast 50minütige Spektakel aus brillanter Komposition,
ausufernden (und diesmal extrem beseelten) Improvisationen, Licht,
Feuer, Funkensprühen im realen wie übertragenen Sinne, dem Sonnengott
als Gaststar, Livekämpfen mit Laserschwertern beendete diesen wahrhaft
zauberhaften Gig. Und selbst im Zugabeteil sattelte die Gruppe noch eins
drauf: nach der Bandvorstellung zu Klängen von "Powerplay" brachte das
elegische Wikingerfinale (ebenfalls aus der frühen "Solar
Music"-Variante) das Konzert zu einem würdigen, erhabenen Abschluss. und
wieder legte der behelmte Totenkopftyp sein flammendes Reliquium auf die
Bretter, die für "Grobschnitt" die Welt bedeuten - und dies hoffentlich
noch sehr lange tun werden.
Was bleibt nun zurück von jenem Konzertabend in
Lübeck? Das Gefühl, wieder einmal reich beschenkt worden zu sein - und
Vorfreude auf die nächsten Konzerte. und die Hoffnung, dass wir Fans
solche Events noch sehr, sehr oft und lange Jahre gemeinsam gesund
abfeiern können!
Günther Klößinger, 27.04.2010