Es flogen die Fetzen in Rocker’s Corner
Im Londoner „Hyde Park“ gibt es eine
kleine Ecke, „Speaker's Corner“ genannt, wo Redefreiheit noch ernst
genommen wird. Jede und jeder, der sich dazu berufen fühlt, kann dort
eine Rede halten und frei von der Leber weg alles mitteilen, was ihn
oder sie bewegt. Da wird vom Leder gezogen, sich von der Labour geredet,
verbal die Welt gerettet und es finden sich wochenends meist auch eine
erkleckliche Anzahl Zuhörer. Im Osnabrücker Konzertschuppen „Hyde Park“
mutierte die Bühne am vergangenen Samstag, den 29.05.2010, zu „Rocker's
Corner“, denn die Mannen der aktuellen Grobschnitt-Inkarnation spielten
so frei von der Leber weg und rissen ihr Publikum so locker mit, wie es
wohl auch die besten Rhetoriker der Londoner Grünanlage nur schwerlich
schaffen. Aber was das englische Redeforum und die Osnabrücker
Musikbühne miteinander verbindet, ist die Vielzahl der grob
angeschnittenen Themen, die Kunst zwischen mitreißend lautem Gepolter
und zarten Zwischentönen die richtige Balance zu finden. Nicht jeder,
der in der britischen Metropole die Redetribüne betritt, hat wirklich
etwas mitzuteilen, im Gegensatz zu „Grobschnitt“. Diese Band hat
definitiv was zu sagen und dabei noch ’ne Menge Spaß am Abrocken.
Und so war auch dieses Gastspiel im
Rahmen der derzeitigen Konzertreihe eine ganz eigene Party, die das
Publikum packte und mitriss. Und das mit einer Show, die, gemessen an
aktuellen Trends, hoffnungslos anachronistisch erscheinen muss. Kein
„schneller, lauter, knackiger“, keine aufdringlichen Poser-Exzesse, nur
brillant gespielte Rockmusik, die ein Kaleidoskop verschiedenster
Facetten zum Leuchten bringt. Stücke weit jenseits der
Drei-Minuten-Grenze, gar Werke von symphonischen Ausmaßen verzaubern die
Fans und verbreiten so viele positive Vibrations, dass am Ende die
Begeisterungsstürme kein Ende nehmen wollen.
Links: Auch Roadies träumen !!!
Die erste Hälfte des Konzerts ist ganz
und gar „Rockpommel’s Land“ gewidmet, jenem Rockmärchen, das so leicht
und luftig daher kommt, dass man erst bei genauerem Hinhören bemerkt,
wie diffizil die Komposition ist und welche Knochenarbeit die Musiker
hier zu leisten haben - doch nach mittlerweile sechs
Komplettaufführungen dieses zauberhaften Fantasy-Opus kommt die
Interpretation so locker und lässig herüber, als spiele man das Stück
zum Warming-up! Es beeindruckt, wie gerade die jüngere Musikergeneration
auf der Bühne, Gitarrist Nuki Danielak, Gitarrist und Pianist Manu
Kapolke, Percussionist, Schlagzeuger und Keyboarder Demian Hache das
Stück zelebrieren, als wäre es ihnen auf den Leib geschrieben. Und doch
datiert die Komposition noch auf die Zeit, in der die Instrumentalisten
sich zumeist noch in der genetischen Planungsphase befanden, wenn
überhaupt. Und genau hier liegt die unglaubliche Stärke von „Rockpommel’s
Land 2010“. Hier muss kein Spagat über den Generation Gap gemacht
werden, hier rocken Väter und Söhne über die Klüfte der Zeiten hinweg.
Was kann besser zeigen, dass es sich hier einfach um ein zeitloses Werk
handelt?
Aber auch die Herren gesetzteren
Alters, die Väter Willi Danielak-Wildschwein an Stimmbändern und
Laminatgitarre, Milla Kapolke an Bass und ebenfalls den Stimmbändern
sowie Tatti Tattva hinter seiner Tastenburg zeigen, gemeinsam mit Toni
Moff Mollo an Gesang und Lightshow und Admiral Top Sahne-Möller an
Schlagzeug und Perkussion keinerlei Alterserscheinungen auf der Bühne.
Willis Stimme klingt gar frischer als in seinen jungen Jahren. Sein
unglaublich wandlungsfähiges Sangesorgan passt sich jeder Stimmung wie
von selbst an und bringt so viel Emotion und Wärme in die Story hinein,
dass die Spannung während der ganzen Stunde, die das Rockmärchen in
Anspruch nimmt, nie nachlässt.
Durch die eigens für diese Showserie
neu komponierten Stücke ist die gesamte Dramaturgie von „Rockpommel’s
Land“ noch veredelt worden und die schon erwähnte Spannung steigt
ständig an, bis sie sich schließlich in einem der schönsten Finales der
Musikgeschichte entlädt - für viele Zuhörer der Zeitpunkt, von
hochgehaltenen Feuerzeugen zu Tränentrocknenden Papiertaschentüchern zu
wechseln.
Die Spiellaune der Band übertrug sich
im „Hyde Park“ unmittelbar auf das Publikum, das die Gruppe frenetisch
abfeierte und solch einen Applaus, wie ihn die Hagener Rockzauberer hier
bereits vor der Pause einheimsten, bekommen andere Stars nicht mal am
Ende ihrer Shows.
Nach dem Abtauchen in die Märchenwelt
von „Rockpommel’s Land“ ging es im Anschluss an die Pause erst mal zur
Sache und „Grobschnitt“ bewiesen mit dem mitreißenden Medley aus
„Illegal“, „Razzia“ und „Mary Green“, dass ihnen auch deutliche Worte
und knallharter Politrock nicht fremd sind - wobei die Songstrukturen
progressiv bleiben und sich so weniger zum Parolen-Gröhlen bei Demos
eignen. Dazu waren sie wohl auch nie gedacht, aber mit den Texten kann
man sich auch heute noch gut auseinandersetzen. Live im Konzert ist
allerdings erst mal Abrocken angesagt, denn die Musiker fegen mit so
viel Schwung durch diese Fetzer, dass kein Bein still bleiben kann.
Steven als Mary Green: Einfach
umwerfend !!!!!
Auch, wenn im Mittelteil von „Mary
Green“ plötzlich neue kompositorische Elemente auftauchen - die ganz
eigene Osnabrück-Version dieses groben Klassikers? Grobschnitt meets
Stockhausen? Oder nur die aktuelle Ausgabe von „Die Panne von
Osnabrück“? Wer weiß. Jedenfalls machen solche Elemente ein Livekonzert
ja auch aus und schmälern den Kunstgenuss in keinem Moment – „Live“ ist
halt immer noch „Live“. Wenn ich glatt gebügelte Perfektion will, kann
ich auch daheim zu zimmerlauem Bier CDs in meine Vorzeige-Anlage
schmeißen! Im „Hyde Park“ war das Bier kühl und die Stimmung am Kochen -
ein Hexenkessel, in dem das Schmuse-Instrumental „Silent Movie“ wirklich
nur die Funktion hat, mal durchschnaufen zu können, bevor die
Ethnorockballade „Könige der Welt“ mit ihrer gewaltigen, trance-artigen
Rhythmik und zum Weinen schönen Gitarrenlinien Mut zum Weiterträumen
macht, ohne sich aus der Welt zu verabschieden. Wie heißt es doch im
Text: „(wir haben) die Vögel belogen und weiße Federn schwarz gemalt.“
ein Schauergemälde in Öl, erschreckend aktuell, obwohl das Lied aus dem
Jahre ’84 stammt. Angesichts der erschreckenden Bilder der aktuellen
Öl-Katastrophe ein wirklich eindringlicher Appell, nicht aufzugeben, bis
die selbstherrlichen Könige dieser Welt abdanken!
Soweit mein kurzer Entwurf zu meiner
Politrede in „Speaker's Corner“ - jetzt aber wieder zurück zu „Rocker's
Corner“, denn der unangefochtene Höhepunkt eines jeden
Grobschnitt-Konzerts stand ja noch an: „Solar Music“. Ein
Rockdinosaurier, der gleichzeitig ein Chamäleon ist. Ich kenne kein
anderes Stück in der Musikgeschichte, dass sich ständig so verändert wie
dieses nahezu 50minütige Meisterwerk - was aber gerade diese Fassung in
Osnabrück ausmachte, war die orgiastische Power, die da von der Bühne
ungefiltert ins Publikum flog. Die Soli ließen wohl jedes Herz höher
schlagen, das Zusammenspiel kann man sich dichter kaum vorstellen -
auch, wenn showtechnisch wegen Brandschutz im wahrsten Sinne des Wortes
auf Sparflamme gekocht werden musste, war dieses Gesamtkunstwerk wieder
mal ein Fest für alle Sinne.
Kein Wunder, dass danach „Powerplay“
als Zugabe kommt, denn die angestauten Energien wollen noch im Abfeiern
der Band kanalisiert werden – Willis sympathische Bandvorstellung ist
die Gelegenheit, endlich jedem einzelnen der Beteiligten auch mal
individuell Applaus zu gönnen - und zum Grande Finale des Abends kommt
der Lieblingswikinger der groben Gemeinde auf die Bühne, um zu
elegischen Klängen wie gewohnt das Konzert rituell zum Abschluss zu
bringen - das Feuer wird auf der Bühne abgelegt und darf nun verlöschen.
Und, wie jedes Mal ist es auch diesmal
wieder nur schwer zu fassen: „Schon vorbei?“ fragt man sich - dass
bereits rund drei Stunden vergangen sind, seit die Band die Bühne
betreten hat, kann der Verstand nicht fassen. Wo ist nur die Zeit hin?
Gefühlt waren das höchstens 60 Minuten. Mich beschleicht zum Ende jeden
Grobschnitt-Konzerts immer ein wenig Wehmut, aber was klingt da zum
abschließenden Winkewinke und Händeschütteln aus den Lautsprechern? „What
about to start another journey?“ Gute Idee, der Rucksack ist schon
gepackt und die nächsten Konzerte kommen bestimmt - und Grobschnitt sind
immer eine Reise wert - das hat auch der Ausflug zu „Rocker's Corner“ im
Osnabrücker „Hyde Park“ mal wieder eindrucksvoll bewiesen.