Artikel der Zeitschrift FACHBLATT 1987

 

Milla Kapolke ist ein Mann, der so leicht nicht aus der Ruhe zu bringen ist. Aber irgendwann platzt auch ihm mal der Kragen: "Daß ausgerechnet wir immer unter diesem Krautrock-Image zu leiden haben, finde ich ausgesprochen ärgerlich. Diese Musik mochten wir noch nie, und damit haben wir auch noch nie etwas zu tun gehabt."

Von Andreas Hub

Worüber man geteilter Meinung sein darf. Immerhin, das muß man ihnen lassen: Grobschnitt ist von jeher eine Band gewesen, die gegen den Strom geschwommen ist, die sich mehr als einmal in ihrer nunmehr 17jährigen Geschichte mit ihrer Querköpfigkeit das Leben schwergemacht hat. Unterm Strich war's offenbar genau das Richtige. Anders hätte das Rock-Unikum aus Hagen kaum überlebt. Aber so, mit der ihnen eigenen Beharrlichkeit, ja Sturheit, brauchen sie sich auch 1987 kaum Sorgen um ihre Zukunft zu machen. Im Gegenteil, es geht ihnen besser, als man es vor Jahren noch hätte ahnen können.

Mit ihrer 13. LP «Fantasten» und einer neuen Plattenfirma im Rücken sind sie gerade auf Tournee. "Natürlich", sagt Milla, der Baßmann, ganz gelassen, "kann es sein, daß die Leute irgendwann das Interesse an Grobschnitt verlieren. So was kann manchmal ganz schnell gehen. Aber wir leben in der Gegenwart. Das hat nichts mit Zeitgeist oder Trends zu tun - was 1987 angesagt ist, bleibt uns herzlich egal. Einige von uns sind schon fast 20 Jahre dabei, da bereiten uns kurzlebige Trendgeschichten keine Kopfschmerzen." Man hat nicht den Eindruck, mit solchen Statements müßten sie sich selbst Mut machen. Das ist nicht das laute Pfeifen im Wald, wenn's langsam finster wird. Wie sie sprechen, wie sie denken, das hat etwas Souveränes. Sage ich mal, ohne einen roten Kopf zu riskieren, ich, der ich schon lange kein Fan mehr bin. Die Musik finde ich unoriginell und altbacken, die Texte banal bis kitschig. Wenn Fans seitenlang zum Ausdruck bringen, was sie bei Grobschnitt-Musik empfinden, läßt mich das kalt. Meine Welt ist das nicht.

Trotzdem bleibt da Sympathie für diesen eigenartigen Hagener Sechser, gespeist zum Teil durch Erinnerungen, hauptsächlich aber durch Respekt für dieses hoffnungslos anachronistische Anderssein. Aber: Sind sie so weltfremd vielleicht nur deshalb, weil die Welt der Popmusik heute mehr oder weniger aus einer Anhäufung von Zahlen, Hitparadennotierungen und wirtschaftlichem Effektivitätsdenken besteht, aus Eckdaten, die nicht viel Menschliches an sich haben? "Unsere Fans haben eine andere Struktur. Nein", korrigiert sich Milla sofort, "Struktur ist kein schönes Wort für einen Menschen." Sie meinen es ernst mit denen, die ihnen zuhören. Auch die sicher ein ganz eigenes Völkchen, aber erstaunlicherweise keine Ansammlung von Leuten mit Parka, ergrauten Bärten und beginnender Glatze, sondern eine junge, nachgewachsene Generation, die an der dreistündigen Show ihren Spaß hat, die wie das Publikum zehn Jahre zuvor frenetisch auf «Solar Music» reagiert und sich von Texten zwischen Poesiealbumlyrik und Selbsterfahrungsgruppe das Herz erwärmen läßt. Milla hat, um im Jargon zu bleiben, keine Berührungsängste, wenn er die Texte schreibt: "Ich habe vor 20 Jahren in der Schule schon laufend Ärger gehabt, weil ich ein großer Hesse-Bewunderer war, und Hesse war als totaler Kitsch verpönt. Ich habe keine Message in den Texten zu verkaufen. Bei vielen deutschsprachigen Sängern hört man sofort heraus, wieviel die schon gelesen haben. Mit so einem intellektuellen Anspruch kann und will ich nicht schreiben. Natürlich kommt es manchmal zu etwas abgestandenen Metaphern, aber das stört mich nicht. Wenn das Bild für mich gefühlsmäßig paßt, geht das völlig in Ordnung."

Unumstritten sind die Texte in der Band nicht immer, da fällt schon mal was unter den Tisch. Außerdem heißt der Sänger nicht Milla Kapalke; diesen Part teilen sich Wildschwein und Toni Moff Mollo. Auch an den traditionellen Phantasienamen sieht man es: Schamhafte Kurskorrekturen gibt es nicht bei Grobschnitt. Man steht zu dem, was man ist und wer man ist. So heißt natürlich auch Gitarrist und Bandorganisator Gerd Kühn immer noch Lupo, der Mixer firmiert weiter unter Geheimrat Günstig, lediglich die Neuzugänge - relativ gesehen - gehen mit ihren bürgerlichen Namen an den Start: Tastenmann Thomas Waßkönig und Ex-Extrabreit-Schlagzeuger Ralf Möller. Die Band versucht halt auch nicht verkrampft an Vergangenem festzuhalten. Auf der 86er Tour hatten sie geplant, die in Ehren altgewordene «Sahara»-Show aus den 70ern noch einmal auferstehen zu lassen. Aber nach dem Pilotkonzert kam der Mummenschanz wieder in die Requisitenkammer: "Das Publikum stand zwar drauf, aber wir haben gemerkt, daß wir das einfach nicht mehr waren. Das paßte nicht mehr."

Mit der gleichen Vorsicht gehen sie bei der gesamten Repertoireauswahl für die Konzerte vor - selbst was die Fans heiß und innig lieben, kommt nicht mehr ins Programm, wenn die Band dazu heute keinen Bezug mehr hat. Soviel Redlichkeit seien sie ihrem Publikum schuldig, das nicht in die Hallen kommt, um eine austauschbare Retortenband zu erleben. Steigende Zuschauerzahlen, auch das erstaunlich genug, sprechen eine beredte Sprache. 1984 hatten sie ein schweres Jahr, zum vorerst letzten Mal in großen Hallen mit einer allzu kostenintensiven Produktion. Als sie 1985 die Auftrittsorte und den Aufwand eine Nummer kleiner wählten, stimmte das Verhältnis wieder. "1986 war dann eins der erfolgreichsten Tourneejahre, die Grobschnitt je erlebt hat - obwohl das nie so recht nach außen gedrungen ist, weil wir in den Medien ja so gut wie nicht vorkommen", sagen sie mit einer Spur Bitterkeit. Der Live-Erfolg zeigte Aufwärts-Tendenzen, auch wenn 1985 gar keine neue Platte erschienen war und 1986 nur eine Live-LP auf dem Programm stand. Daß sie «Solar Music» zum zweiten Mal als Konzertmitschnitt veröffentlicht haben, hat keiner bereut. "Davon ist zwar nie ein Stück im Radio gelaufen, aber es war ein Dankeschön an all die Grobschnitt-Fans, die uns jahrelang bestürmt haben, die neue Fassung von «Solar Music» als Platte zu veröffentlichen."

Nun liegt nach drei Jahren wieder eine Studio-LP auf dem Tisch. Mit «Fantasten» hofft die Band, auch in Plattenverkaufsstatistiken wieder ein Wort mitreden zu können. Ihr letzter tatsächlicher Hit «Wir wollen leben» liegt schließlich schon fünf Jahre zurück. Der von Kritikerseite geäußerte Vorwurf, mit kommerziellen Song-Strickmustern jetzt noch retten zu wollen, was zu retten ist, zeugt von Unwissenheit: Neben dem einen echten hatten sie immer schon ein paar heimliche Hits. «Silent Movie» zählt als Instrumentalnummer zum Standard-Repertoire hiesiger Hörfunk-Programmgestalter, «Wie der Wind» wehte monatelang durch diverse Hörerhitparaden. Auf knappe, melodiöse Songs verstehen sie sich also nicht erst anno ‘87.

Wie immer, haben sie auch bei der aktuellen Produktion das Heft nicht aus der Hand gegeben. Aufgenommen im Dortmunder Woodhouse-Studio, das ihren Ex-Schlagzeuger Eroc zum Mitinhaber hat, produziert in eigener Regie. "Wir überlegen uns jedesmal wieder, ob wir uns mal nach einem Produzenten umsehen sollen. Mit derselben Regelmäßigkeit lassen wir die Idee wieder fallen, weil wir uns über die Jahre hinweg einen so eigenen Arbeitsstil angewöhnt haben, daß ein Außenstehender nur schwer mit uns zurechtkäme. Außerdem sind wir mit unseren LPs bisher immer zufrieden gewesen." Auch Eroc hatte seine Hände nicht im Spiel. Zwar versteht man sich nach wie vor sehr gut miteinander, aber gerade das wäre das Problem bei seiner Beteiligung als Co-Produzent: Wo hören die Kompetenzen des einen auf, der über Jahre eine so dominierende Rolle in der Band gespielt hat, und wo fängt die Beschneidung der Gruppenfreiheit an?

Bei unserem Gespräch, mitten in den hektischen Vorbereitungen für die 87er Tournee, liegen allzu viele Reaktionen auf «Fantasten» noch nicht vor - die LP ist gerade erst auf dem Weg in die Läden. Diesmal ist man nicht den Weg eines Konzeptalbums wie bei «Kinder und Narren» 1984 gegangen, sondern hat eine Sammlung von Songs auf die Platte gepackt, die zum Teil schon auf der letzten Tournee ihre Feuertaufe live erlebt haben. Das Ganze klingt musikalisch und textlich lockerer, weniger bedeutungsschwer als auf dem Vorgängeralbum. Trotzdem hofft die Band im stillen, daß die Hörer sich ähnlich intensiv mit den Songinhalten auseinandersetzen wie bei «Kinder und Narren»: Da hatte eine kirchliche Jugendgruppe ein Theaterstück um das Album herum entworfen, und eine Puppenbühne aus Mülheim (Ruhr) hatte sich zu einer Marionetteninszenierung inspirieren lassen.

 

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