Bericht zum GERMAN ROCK FESTIVAL in Dortmund 1974?

 

GERMAN ROCK-FESTIVAL

Faszinierender Höhepunkt: GROBSCHNITT auch Hagen / Ein Lückenbüßer entpuppt sich als die große Überraschung: LIVE aus Gevelsberg / Beeindruckend: AGITATION FREE aus Berlin

Nach zwei Tagen mehr oder weniger hörenswerter, jedoch ausnahmslos Phon-gewaltiger Beschallung weiß ich nicht mehr, wo mir der Kopf steht. Fast zwanzig Stunden bewußt erlebter Musik, produziert von bundesdeutscher Pop-Prominenz, zerren nicht nur am Trommelfell; als ich nach KRAAN die Westfalenhalle V am Sonntagabend verlasse, ist meine Aufnahmekapazität erschöpft. 15 Gruppen hatte die SOUNDS INTERNATIONAL PRODUCTION zum Dortmunder GERMAN ROCK FESTIVAL am ersten Märzwochenende aufgeboten – einem knappen Dutzend trotzten meine Nerven.

Nachdem die einheimischen Agenturen in der deutschen Szene fündig wurden (...denn sieh, das Gute liegt so nah!) und der "Kraut-Rock" allerorts in Festivalkulturen wuchert, muß sich eine derartig geballte Ladung deutschen Pop-Guts neuerdings jedoch in Frage stellen. Abgesehen von der erwähnten Aufnahmekapazität der jeweiligen Zuhörerschaft, über deren Grenze sich die Programmgestalter wohl nicht so ganz im klaren sind, halten diese Mammutveranstaltungen für immer mehr Besucher zuviel schon oft Gehörtes bereit. Dies sei kein Plädoyer für die bewährte Konzertform (Vor- und Hauptgruppe), vielmehr erscheint mir für Veranstalter und Besucher der Hinweis wichtig, bei der Programmgestaltung, bzw. dem Entscheidungsprozeß zum Besuch eines Festivals, das Augenmerk ein wenig mehr auf die Struktur der Programmabfolge zu lenken. Eine quantitative Beschränkung des Angebots würde die potentielle "schon-gehört-Quote" in jedem Fall senken. In dieser Hinsicht ließ das Programm des Dortmunder Festivals an Originalität zu wünschen übrig. Die momentan erfreuliche Auftragslage für Gruppen wie KARTHAGO, BIRTH CONTROL. GURU GURU und KIN PING MEH bremste den Andrang und schmälerte zweifellos die Erwartungshaltung vieler der 2.000, die dann doch gekommen waren.

Zur Musik: Fünf Auftritte erscheinen es wert, aus dem musikalischen Konglomerat der beiden Festivaltage hervorgehoben zu werden. Sie hinterließen bei mir die stärksten Eindrücke, im positiven, wie im negativen Sinne. Der Chronologie wegen die negativen zuerst.

Nach TRIUMVIRAT und BIRTH CONTROL, die sich allseitigen Wohlwollens erfreuten, versuchte sich HÖLDERLIN an der Musik - zuerst jedoch an der Technik: ihre bald einstündige Bastelei an der Anlage kam technisch-akustisch zu keinem befriedigenden Abschluß. Die Vielfalt der eingesetzten Instrumente vergrößerte zusätzlich das klangbildliche Chaos ihrer konzeptionslosen Stücke. Der viel zu weiche Bass ließ kaum noch Tonintervalle erkennen, während die unabläßlich in höchsten Frequenzen umherirrende E-Geige Laubsägengefühle in den Gehörorganen auslöste und die massiven "Aufhören"-Sprechchöre aus der Halle bis zur Unhörbarkeit überlagerte.

UDO LINDENBERG mit PANIKORCHESTER konnte davon nur profitieren. Sein Holzhammer-Primitiv-Sound lieferte im Anschluß wenigstens einen konkreten Rhythmus. der zum Mitklatschen reizte - Pseudo-Beifall. Das PANIKORCHESTER leistete trotz der einfallsreichen (akustisch meist unverständlichen) Texte den konventionellsten Beitrag, darüber konnte auch der geschickt inszenierte Klamauk mit Pianistentanz und Transvestiten-Strip nicht hinwegtäuschen.

Ein Lückenbüßer entpuppte sich zwei Stunden später als erste große Überraschung. LIVE aus Gevelsberg ersetzte die SCORPIONS mit einem begeisternden Auftritt. Die klassischen Elemente, die LIVE den Stücken im Stil der frühen BEGGARS OPERA zugrunde legte, wurden von der Gruppe modifiziert, unter Hinzunahme komplizierter Duo-Passagen von Orgel und Gitarre zu weitgreifenden Improvisationen aufgelöst und schließlich wieder zu den ursprünglichen Motiven zurückgeführt. LIVE, das sind Norbert Aufmhof: Orgel, Piano, Flöte; Gerd Klein: Gitarre; Gerd Schmidt: Baß; Jürgen Schimmel: Schlagzeug. Eine Gruppe mit Zukunft.

Die bevorstehende Nacht, die enttäuschende Darbietung von EMERGENCY und ein farbloser Auftritt von JANE ließen das Auditorium bis auf 500 Unermüdliche zusammenschrumpfen. So fand der unerwartete Höhepunkt des Festivals nur die Resonanz einer Minderheit: GROBSCHNITT stellte alle in den Schatten. Ungeachtet der fortgeschrittenen Zeit (fünf Uhr) und der Anstrengungen des Gigs vom Vortag, brachte GROBSCHNITT ihr gesamtes Programm (2 1/2 Stunden) auf die Bühne. Die faszinierende Einheit von komplexen, stark akzentuierten Klanggebilden, eingespielten Geräusch- und Textbeiträgen und eines ausgefeilten Musik-Theaters (unter anderem der satirischen Rezeption des Neuen Testaments), förderte auch die Tiefschläfer wieder zum Bewußtsein. Mit ihrem derzeitigen Programm hat die Gruppe von der musikalischen Substanz und der Perfektion des Vortrags her betrachtet eine Qualität erreicht, die sie in Anbetracht des noch immer geringen Stellenwerts in der Öffentlichkeit zum Stiefkind der deutschen Pop-Szene bestimmt. Das Engagement und das hohe Niveau der Gruppe dürfte mit einem Erfolg Ihrer im April erschienenen Doppel-LP – entsprechende Anerkennung finden. GROBSCHNITT: Gerd Kühn Solo-Gitarre; Stefan Danielak: Rhythmus-Gitarre, Lead Vocals; Bernhard Uhlemann: Bass: Volker Kahrs: Orgel, E-Piano; Joachim Ehrig: Schlagzeug, Tonbandeinspielungen, Schauspiel; Ralf Gräber: Lichteffekte, Schauspieler; Rainer Losskand: Elektronische Effekte, Schauspieler.

Letzte wirkliche Überraschung des Rock-Meetings: AGITATION FREE. Der Berliner Formation dürfte es als einziger gelungen sein, den Eindruck eines dynamischen "sich-frei-Spielens" - getragen durch zwei Gitarren - erweckt zu haben, ohne die klaren Strukturen, begründet in ständig wiederkehrenden musikalischen Mustern, dabei aufzugeben. Entscheidend für die Abgewogenheit des positiven Gesamtbildes ist sicher die Gleichstellung der einzelnen Musiker, deren autonomes Können transparent blieb. Nach AGITATION FREE wirkte KARTHAGO nur noch wie ein brüllendes Rock-Ungetüm. Joey Albrechts Einzelleistung wurde von der übrigen Gruppe umrahmt, nicht integriert. Ähnlich scharf hob sich KIN PING MEH von GURU GURU ab. Die GURUs waren in Hochform und ernteten für den "Elektrolurch" herzlichen Beifall. KRAANs esoterisch eigenwillige Saxophon-Gitarre-Impressionen ließen schließlich Raum zum Luftholen.

Zur Organisation: Wie bei fast allen Meetings dieser Art konnte auch SIP die programmatischen Verheißungen nicht einlösen. SCORPIONS, TIME IN SPACE, NOVALIS, GIFT und EPITAPH traten nicht auf. Dies war zu verschmerzen, da EMERGENCY und LIVE (siehe "zur Musik") einsprangen und die Konstellation der verpflichteten Gruppen zunächst ein ziemlich ähnliches PopularitätsNiveau ohne "Aufreißer" versprach. Unverständlich blieb, wieso die beiden Bühnen, die einen reibungslosen Ablauf des Geschehens garantieren sollten, nicht sinnvoll genutzt wurden. Nicht selten verrichteten die Roadies zweier Gruppen ihr Installationswerk auf einer Bühne gleichzeitig, während die andere Bühne leer blieb. Umbaupausen von einer Stunde und länger waren die unangenehmen Folge.

Unverständlich auch das abgezäunte Areal in der Größe einer Drei-Zimmer-Wohnung mitten in der Hall, reserviert für die Mischpulte und ein paar Scheinwerfer (die vorgegebene Bezeichnung "Lightshow" erwies sich als Anmaßung).

Der unverhältnismäßig breite Zugang (mehr als zwei Meter) von den Bühnen zu diesem Technik-Freiraum (mit Sofa) spaltete das Publikum gänzlich in zwei Lager. KRAAN erbrachte den Beweis, daß dieses Privileg der Technik vor dem Bedürfnis, Musik genießen zu können. nicht zu rechtfertigen war. Der Mixer zog mit seinem Mischpult vor die Bühne, mitten unter die Leute.

Die friedliche Atmosphäre, in der das Spektakel über die Bühnen ging, spricht für die Organisatoren. Die Ordner waren als solche nicht auszumachen: äußerte ein allzu Begeisterter seine Gefühle am falschen Fleck, holten ihn sanfte Kräfte mit Schulterklopfen und Zureden wieder zurück. SIP bestätigte: es geht auch ohne Handgreiflichkeiten.

Herbert Fritz

Veranstalter: Sounds International Production GmbH, 3000 Hannover, Theaterstr. 8

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