Artikel aus MusikSzene 4/1984

Aufstand der Narren

Lang, lang ist's her. Ganze vierzehn Jahre sind nun verstrichen, seit sich in frühen Tagen, so Anno 1970, in Hagen ein paar Musiker entschlossen, die Band namens Grobschnitt aus der Taufe zu heben. Elf LPs erschienen seither. Und die neueste, mit der sich die umformierte Truppe zurückmeldet, trägt dabei den Titel "Kinder und Narren".

Bekannt wurden Grobschnitt durch ihre monströsen Rock-Shows. Ausgefeiltes Live-Programm mit anspruchsvollen Inhalten. Das Ganze war stets entworfen von Musikern mit Liebe fürs dramaturgische Detail, Musikern, die der häßlichen Wirklichkeit in unserer Gesellschaft allzu gerne ins Gesicht spuckten. Doch dies nicht etwa mit erhobenen Fäusten und dumpfem Polit-Rock. So waren ihre Konzerte auch stets eher Happenings, lebendiges Theater mit einer beachtlich großen Fan-Gemeinde.

In neuer Besetzung treten Grobschnitt nun wieder vor ihr Publikum. Der bisherige Drummer Eroc widmet sich nun endgültig seinen Solo-Projekten. Für ihn stieg Peter Jureit ein, der bislang bei den Conditors trommelte. Ein weiterer Neuzugang ist Jürgen Cramer, der die Keyboards bedient.

Gründungsmitglied Wildschwein versucht sich mittlerweile am Saxophon, und Bassist Milla übernimmt nun zunehmend auch Gesangsparts.

Auf der neuen LP wird die Geschichte des Narren Fulio erzählt. Dieser fühlt sich mehr zur Kinderwelt hingezogen, als zur düsteren, brutalen Welt der Erwachsenen. Der "junge Narr" wird von einem Orakel ereilt und verliebt sich zusätzlich auch noch heftig. Doch der Stoff, aus dem hier die Träume geschnitzt wurden, bleibt imaginär. Eine besondere Philosophie tritt ans Tageslicht: Liebe und Freiheit oder Freiheit und Liebe. Austauschbar. Untrennbar. Doch wehe die Liebe wird zur umklammernden Fessel - dann werden Menschen zu besitzgierigen Monstern, die ohnehin in ihrer Habsucht alles gierig an sich reißen, vernichten, zerstören - aus Liebe wird bekanntlich so schnell Haß ...

Musikalisch hat der Gruppe die Umbesetzung dabei gut getan. Denn das frische Blut verjüngte die Songs und Kompositionen, vor allem in ihrer Dynamik. Auch ein harter Heavy-Gitarren-Sound oder ein ruhiges Electric-Piano überraschen schon mal. Interessant bleibt, daß diese Musiker aus deutschen Landen ihren völlig eigenen Weg gehen und dabei bei ihrer bewährten Präsentationsform, dem dreistündigen Live-Spektakel, geblieben sind.

Am 30. März nun starten Grobschnitt mal wieder, um in deutschen Landen zu touren. Dabei geht es durch mehr als 30 Städte. Für die MUSIK SZENE war dies der Anlaß, um mit Bassist und Sänger Milla Kapolke sowie mit dem Gitarristen Lupo einmal ausführlich über neue LP, kommende Tournee und die neuesten Ideen der Band zu plaudern ...

Auf der neuen LP habt ihr ein riesiges Herz für Kinder. Warum widmet ihr euch denn so vorrangig den Kinderwelten?

Milla: Es geht uns darum, daß für uns Kinder gleichbedeutend mit Zukunft sind. Eine unverbrauchte Chance für die Zukunft. Darin verkörpert sich auch die einzige Möglichkeit für Hoffnung. Das heißt, wenn man überhaupt noch etwas verändern will, wenn sich überhaupt noch etwas positiv entwickeln soll, kann das nur über die Kinder passieren ...

Das erinnert stark an pädagogische Impulse. Besteht da ein Zusammenhang mit dieser "Erzieher-Ebene"?

Milla: Tja, ich bin Lehrer gewesen... Ich weiß nicht, inwieweit das ins Pädagogische eingreift. Für uns ist dabei folgendes wichtig: das Bild von Kindern schlechthin, das muß man sich erhalten ... Kinder verkörpern einfach so eine gewisse Unschuld. Für uns steckt da auch als Aspekt dahinter, daß Kindlichkeit viel mit wahrer Freiheit zu tun hat, eine Zeit, bevor die Menschen in bestimmte Bahnen gedrängt werden. Das ist das gleiche wie mit den Narren - das sind Leute, die einfach nicht angepaßt sind. Narren bilden in der Geschichte auch stets einen Gegenpol zur herrschenden Gesellschaft. Also zu denjenigen, die eher unsere Welt kaputt machen, von denen negative Impulse ausgehen. Narren sind Leute, die diese Sachen nicht mitmachen wollen. Der Unterschied ist dabei nur, sobald Kinder in der Erziehungsmaschinerie gelandet sind, werden sie verzogen oder verdorben - wie auch immer man das nennen will...

Ist das eure Botschaft: Leute, hört auf erwachsen zu sein, auf ins Land der Narren?

Milla: Unter dem "Erwachsen sein" kann man natürlich viel verstehen. Das kann heißen, nicht mehr lernfähig zu sein, "zu" zu sein, gefühllos und nicht mehr empfänglich für Neues zu sein. Wir sehen dabei vor allem diese starre Unflexibilität ...

Bei den Texten auf eurer neuen LP gibt es so manchen Bezug zu fantasievollen Kinderwelten. Ihr spielt dabei mit einer "gesunden Verrücktheit", mit positiven, kindlichen Idealen. Was steckt denn eurerseits eigentlich dahinter? Denn ihr seid ja keine Kinder mehr?

Milla: Das ist schon so, daß wir dabei zuerst einmal ganz einfach von uns selber ausgegangen sind. Von unseren Frustrationen und Erfahrungen. Bei der LP "Kinder und Narren" ist das, was man als zentrale Botschaft bezeichnen könnte: Liebe und Freiheit. Es geht uns unter anderem auch darum, auszudrücken, daß das Verhältnis von Eltern und Kindern und auch die normalen Beziehungen, Besitzverhältnisse sind, daß sämtliche Beziehungen immer von einem Besitzanspruch ausgehen. Das heißt, daß man Ansprüche stellt und nur unter gewissen Bedingungen liebt - Geschäftsverhältnisse eben ... Im Extremfall kommt es dann zu solchen Sachen wie Eifersucht oder Gewalt, das wird dann abreagiert.

Ihr stellt jetzt ein ausgefeiltes Konzept-Album vor, das ihr nun auf einer ausgedehnten Tournee präsentieren werdet. Grobschnitt-Kenner sind da natürlich gespannt, wie ihr dieses Märchen, diese Erzählung über den Narren Fulio live vorführen werdet?

Milla: Wir sind ja bekannt für unsere umfangreichen Live-Shows. Daran hat sich vom grundsätzlichen Konzept her auch nicht viel geändert. Wir spielen wie immer circa drei Stunden, das ist schon ungewöhnlich lange für ‘ne Rock-Band. Unsere Texte werden dabei optisch umgesetzt - wir versuchen halt auch, viel fürs Auge zu bieten. Mit theatralischen Einlagen, ob das Licht-Effekte sind oder Kostüme ... Wir präsentieren durchgehend eine richtige Rock-Show. Auch unsere Roadies kommen immer mit auf die Bühne, sie verkleiden sich und übernehmen dann irgendwelche Rollen. Das ist schon ein riesiger Aufwand, auch Gags wie zum Beispiel ein Feuerwerk werden dabei eingesetzt. Wir hatten natürlich nicht immer so ein Konzept-Album wie "Kinder und Narren" als Grundlage. Auf den beiden Tourneen, die wir vorher gemacht haben, hatten wir uns lediglich einer Grundidee gewidmet. Die zog sich als roter Faden durchs Programm. Wie wir nun diesmal unsere Show bringen werden, wollen wir aber noch nicht verraten. Es wird aber auf jeden Fall diesen märchenhaften, fantastischen Fantasy-Rahmen haben, den die Geschichte auch hat.

Stichwort Fantasy. Das ist momentan ja auch unheimlich populär. Filme wie "Krieg der Sterne" oder "E. T." sind große Kassenschlager. Ebenso Fantasy-Bücher. Wollt ihr da bewußt auf dieser aktuellen Strömung mitschwimmen?

Milla: Wir sind in der Gruppe alle Fantasy-Fans, haben uns alle auch schon seit Jahren mit solcher Literatur beschäftigt und hatten solche Elemente eigentlich immer schon in unsere Musik einfließen lassen. Die Verbindung von Grobschnitt und Fantasy oder Märchen ist wirklich schon sehr alt. Auch die LP "Rockpommels Land" ist eigentlich eine Fantasy-Geschichte gewesen.

Lupo: Die ist ja bekanntlich ‘77 erschienen. Das war ein richtiges Märchen. Für die Leute, die Grobschnitt kennen und lieben, ist das schon so eine Art Kult-LP. Man kann fast sagen, die Fantasy-Welle hat uns eingeholt und nicht umgekehrt. Wir haben das im Prinzip immer schon gemacht.

Steckt ihr als Musiker eigentlich noch in anderen Projekten drin?

Lupo: Also unser ehemaliger Schlagzeuger Eroc, der hat bis jetzt vier Solo-Alben veröffentlicht. Aber ansonsten sind wir alle mit Grobschnitt voll ausgelastet. Da ist deine Zeit total verplant ...

Ihr lebt also alle von eurer Musik?

Lupo: Ja, ja, wir leben alle davon ...

Milla: Dazu muß man auch sagen, daß wir alles selber machen. Wir kümmern uns um alle wesentlichen Bereiche. Wir sind unser eigenes Management. Wir planen unsere Tournee selbst, also auch das Booking erledigen wir, wir kümmern uns auch bis zur Cover-Gestaltung um alle Bereiche selber ... Auch der Aufwand für unsere Show erfordert viel Zeit. Da brauchen wir zwei, drei Monate nur für Planung und Konzeptionierung.

Euch stilistisch zu klassifizieren, fällt nicht gerade leicht. Vielleicht könnt Ihr das einmal selber tun ....?

Lupo: Man kann sagen, das wirklich Gute an Grobschnitt war bisher, daß wir immer zeitlos waren. Man kann vielleicht auch sagen, das war vielleicht unser Glück. Denn wenn du schon so lange dabei bist, dann kannst du es haben, daß, wenn du dich irgendwelchen Trends anhängst, du zwei, drei Jahre später endgültig weg von der Szene bist ... Und glücklicherweise haben wir diesen Fehler nie gemacht. Wir haben zum Beispiel schon ‘76 ein komplettes deutsch besungenes Album herausgebracht. Da gab's kaum Bands, die in ihrer Sprache gesungen haben ...

Milla: Man kann sagen, unsere Musik war immer das Ergebnis von Entwicklungen und Kommunikation. Wir waren und sind immer offen für neue Strömungen und Einflüsse ...

Text: Jürgen Stark
Fotos: David Klammer

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